„Ker, is dat heute wieder ne Suppenküche“, denke ich mir, als ich an diesem grauen Montagmorgen im November mit dem Rad in die Nachtigallstraße einbiege und den Frühschichtverkehr Bommerns auf dem Weg zur Arbeit hinter mir lasse. Der Duft von feuchtem Laub dringt durch den Nieselregen in meine Nase, und mein Blick schweift eher gedankenlos nach rechts, durch die Bäume Richtung Ruhr. Da steht es, das Edelstahlwerk. Wittens Pulsschlag aus Stahl. Dieses Werk, dessen Sound und Optik die Stadt seit Jahrzehnten prägen, packt mich immer wieder. Jeder hier kennt die Geräusche krachender Stahlteile, die die nächtliche Ruhe an der Ruhr schraffieren. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, ob ich wohl Schlafstörungen bekomme, wenn es eines Nachts nicht mehr diese akustische Begleitung geben sollte.
Pulsschlag aus Stahl
Als ich den Hügel nach Steinhausen erklimme, gibt es noch einmal den vollen Panoramablick auf „Thyssen“, wie das Edelstahlwerk im Volksmund gern genannt wird, obwohl es nur gut zwanzig Jahre unter dem Banner des Stahlgiganten firmierte. „Wie schön ich dat finde und mich nie satt sehen kann“ kommt mir so in den Sinn, auch wenn die Leute, die da malochen, dass bestimmt weniger romantisch sehen als ich.
Angekommen am Schloss Steinhausen begrüßen mich, wie jeden Morgen, lebensgroße Metallobjekte des zimbabwischen Künstlers Ray Chataira. Giraffen, Löwen, Elefanten, ein Mercedes Oldtimer. Grandiose zeitgenössische Kunst, mitten in Witten-Bommern, am Waldesrand des Muttentals, mit dem Stahlwerk im Hintergrund. Ein starkes Bild, das mich immer wieder innehalten lässt. Dort das Werk der Montanindustrie, der Stahlveredelung, und hier diese unfassbare Upcycling-Kunst aus alten Blechen und Maschinenteilen. Was für eine skurrile Verbindung. Von Witten in die weite Welt und aus dem südlichen Afrika nach Witten, so etwas kann man sich ja gar nicht ausdenken. Und so kommen Dinge manchmal zusammen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören.
Mit unserem Galeriebetrieb „Shona-Art“ bringen wir seit über zwanzig Jahren Kunst aus Zimbabwe nach Deutschland. Die Steinkunst ist der Ursprung, viele Künstler, die auch mit Metall und Holz arbeiten, sind dazu gekommen.
Besuch aus Bayern
Ich sitze noch nicht lang an meinem Schreibtisch, nippe gerade das zweite Mal am Kaffee, als es im Galerieladen klingelt. Vermutlich nur der Postbote, aber pflichtbewusst eile ich die Treppe hinab und habe die Ehre, statt eines Briefträgers eine Gruppe Damen aus Süddeutschland begrüßen zu dürfen. Sie seien gerade wegen eines Seminars für Waldorfpädagogik zu Gast in Witten und machten trotz des Wetters eine kleine Waldwanderung. Nun haben sie uns entdeckt und sind völlig aus dem Häuschen. Die vier freundlichen Frauen mittleren Alters wollen alles wissen. Was es mit den Steinskulpturen auf sich hat, wer sie gemacht hat.
Routiniert erzähle ich, dass Bildhauerei aus Zimbabwe die renommierteste Form zeitgenössischer Kunst aus Afrika ist und vom amerikanischen Nachrichtenmagazin Newsweek sogar als wichtigste Kunstmanifestation Afrikas der letzten Jahrzehnte geadelt wurde. Ich berichte, dass Inhaber Bastian, seine Frau Nina und ich regelmäßig in Zimbabwe sind und die Künstler dort persönlich besuchen. Und dass wir auch viele Bildhauer nach Deutschland einladen, um den Austausch zu fördern. „Und, is des etzad scho‘ wos bsonders?“, fragt mich die kleine Rundliche mit den Pausbacken ehrfürchtig. „Ich denke schon“, erwidere ich und kläre sie auf, dass wir Objekte von Künstlern im Programm haben, die bereits weltweit in Sammlungen und Museen wie dem Museum of Modern Art in New York oder dem Musée Rodin in Paris ausgestellt wurden.
Allmählich gerate ich in Erzähllaune, so ein nettes Publikum hat man selten und ein Montagmorgen im Winter ist wie gemacht für eine Sightseeing-Runde. Derart motiviert frage ich ein bisschen theatralisch, ob ihnen eigentlich klar sei, auf was für heiligem Wittener Grund sie hier stünden. „Na, erzählns amoi, do samma scho‘ sehr g‘spannt, wenn Sie des asoooo ankündigen“, jubelt mir eine der Damen im lila Waldi-Outfit entgegen. Und während ich mir noch so denke, dass diese Anthroposophen irgendwie zu Witten gehören wie das Edelstahlwerk und der Ziegenbock am Stadtpark, steige ich auch schon ein, wieder einmal begeistert von dieser Wahnsinnsgeschichte.
Schloss Steinhausen
Das Schloss Steinhausen, in dessen altem Teil, einem Giebelhaus mit Rapunzeltürmchen, wir unseren Galerieladen und das Büro haben, wird erstmals 1297 erwähnt und ist damit das älteste bekannte befestigte Gebäude der Stadt Witten. An einem so geschichtsträchtigen Ort arbeiten zu dürfen, erfüllt mich auch nach all den Jahren mit Freude und Demut.
Als das bereits viel gelobte Stahlwerk 1854 vom Unternehmer Carl Ludwig Berger, dem damaligen Steinhausen-Besitzer Jan Jacob van Braam und anderen gegründet wurde, war das Ruhrgebiet längst schon ein Ruhrpott oder noch treffender: der Kohlenpott. Während es in Bochum, Bottrop und Co. nun richtig abgehen sollte in Sachen Steinkohle, kam der Bergbau im Wittener Muttental allmählich zum Erliegen. Dabei begann doch alles genau hier! Und das wissen erstaunlich wenige Menschen, sodass ich die sympathische Wandergruppe mit Leichtigkeit in Erstaunen versetzen kann: „Die Legende besagt, dass irgendwann im 16. Jahrhundert am Lauf des Muttenbaches ein Schweinehirte bei seinem nächtlichen Lagerfeuer einschlief, nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem wir gerade stehen. Als er des Morgens erwachte, glühte der Boden, auf dem sein Feuer gebrannt hatte – durch Zufall war er auf nichts Unbedeutenderes als Steinkohle gestoßen“, berichte ich enthusiastisch.
„In der Folge wurde das Muttental zu dem Ort im Ruhrgebiet, an dem die ersten Steinkohlezechen entstanden. Die günstigen geologischen Gegebenheiten ermöglichten es auch schon zu jener Zeit, mit relativ einfachen Mitteln, nicht zu tief im Berg Kohle zu fördern. Zur Blütezeit gab es hier sechzig Kleinzechen. Die größte, Zeche Nachtigall, war bei ihrer Stilllegung 1892 eine ausgewachsene Tiefbauzeche, mehrere hundert Meter tief.“
Die Frauen staunen nicht schlecht, als ihnen die Tragweite meiner Erzählung dämmert. „Des hamma echt ned g‘wusst. Dann ist Witten ja so etwas wie die Wiege des Bergbaus!“ Bingo. Warum auf Wittens Ortsschildern „Universitätsstadt“ steht, statt „Die Wiege des Ruhrbergbaus“, das verstehe ich bis heute nicht. „Universitätsstadt“ können auch Mainz und Marburg, aber „Wiege des Ruhrbergbaus“ - mein lieber Scholli, wer kann das schon von sich sagen?
Great Zimbabwe
Als die Damen sich freundlich verabschieden, hole ich mir noch einen Kaffee und drehe eine Runde durch den Skulpturenpark. Ich denke daran, was hier im Sommer los ist. Wenn der Metallkünstler Ray zu Gast ist und die Funken mit seinem Schweißgerät fliegen lässt, während Radfahrer und Wanderer einen Abstecher zum Schloss Steinhausen machen. Wenn die herrliche Natur des Muttentales blüht, die Eidechsen sich in den Ruhrsandsteinmauern des Giebelhauses verstecken. Wenn uns wieder Bildhauer aus Zimbabwe besuchen, vielleicht Walter Maponga oder Hebaron Zvabata, und mit begeisterten Kursteilnehmern die Kunst der Steinbildhauerei erlernt wird.
Doch jetzt ist es November. Grau, kalt, klassisches Ruhrpott-Feeling. Ich streiche über eine abstrakte Figur des Bildhauers Godfrey Matungamidze. Mist, jetzt habe ich den Frauen das Abgefahrenste verschwiegen: Der Ländername Zimbabwe geht zurück auf Great Zimbabwe, einer alten Königsstadt im südlichen Afrika aus dem 11. Jahrhundert. Frei übersetzt heißt es „Große Steinhäuser“. Wirklich jedes Mal, wenn ich mir das vor Augen führe, Zimbabwe, die „Steinhäuser“ und wir hier auf „Steinhausen“, dann krieg ich Gänsepelle. Dazu die Kohle, aus dem Berg geholt, um den Menschen Material zu sein, sie zu wärmen und der Industrie zu dienen und auf der anderen Seite die Serpentinsteine, in weiter Ferne ebenfalls dem Berg abgerungen, die zur Kunst und Schönheit vollendet werden, um nun hier zu stehen. Das rührt mich. Und ich finde, dass das alles super zu diesem historischen Fleckchen Erde im schönen Witten passt.
Dieser Text ist im Buch "Witten - ker, wat schön!" von Mark Daniel erschienen. Ich freue mich, als Gastautor einen kleinen Beitrag zu dieser Hommage an unsere Heimatstadt geschrieben zu haben. Mark Daniels Liebeserklärung an die Ruhrstadt und die Menschen, die seine Herzensheimat prägen. Das Buch erzählt kuriose und berührende Geschichten unter anderem von Peter Steger, Hildegard Doebner, „Earny“ Dussin, Franco und Dominik Sapia oder Eddi und seinen Durst & Wurst Express. Historie und Humor strömen aus Orten wie Muttental, Thyssen, Wiesenviertel oder der Tanzschule Feldmann-Hartmann. Mark Daniel gleicht Vergangenheit mit Gegenwart ab und versammelt Anekdoten, die eine Menge erzählen über diesen speziellen Humor, um den andere den Ruhrpott so beneiden. Ein in Kapitel gegossenes, generationsübergreifendes Klassentreffen.
Das Buch kann man bei Mark direkt bestellen oder auch bei Shona-Art auf Schloss Steinhausen kaufen.
Kommentar schreiben